Montag, 15. Oktober 2007

ARZTROMANE

Nun waren auf meinen Wunsch alle Zeitschriftenständer für die Regenbogenpresse gegen Bücherregale ausgewechselt worden, folglich wurden - auch wieder zum Ärger der Patienten - die dünnen Hefte der Arztromane aus der Klinik verbannt. Diese restriktive Maßnahme bot allerdings auch einen großen Vorteil. Denn nun ließen sich die Ärzte bei der Visite nicht mehr so leicht auf die Verhaltensnormen eines Romanhelden festlegen; sie konnten sich ganz sachlich und natürlich mit den Kranken verständigen. Aus dem Blickwinkel der Patienten schienen auch die Pflegekräfte gar nicht mehr so einfältig, anmutig und demütig dreinzuschauen wie ihre Vorbilder, die aus weiten Pupillen zu den Leitenden Ärzten aufzublicken pflegten.
Ich hatte registriert, dass die Mediziner in Klinik und Praxis sogar noch im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausend n. Chr. wie verkleinerte Kopien von
Friedrich Scharfschneider, dem berühmten Berliner Chirurgen, von
Axel Munthes blindem Arzt auf Capri oder von
Albert Schweitzer, dem Urwalddoktor, vielleicht auch noch von
Johann Andreas Eysenbarth, dem Erfurter Wanderarzt, angesehen wurden. Ohne Übertreibung gesagt, wurden die postmodernen Äskulapjünger wie die alten Originale verehrt. Kein Wunder, dass die Arztrolle so oft von prominenten Schauspielern verkörpert, und im Film, authentisch wie in der klinischen Wirklichkeit, mit romantischen Abenteurern und sogar manchmal mit Hochstaplern besetzt wurde. Selbst der makellose Schriftsteller Karl May, der als Kind unter einer psychogenen Blindheit und zeitlebens unter einer Pseudologia phantastica litt, die ihn allerdings befähigte, im 19. Jahrhundert fiktive Handlungen und Personen sowohl mit der Realität als auch mit seinen Utopien zu vereinbaren, hatte sich einen Doktortitel angedichtet und eine recht überzeugende Rolle als Augenarzt gespielt, bevor er mit der Schilderung seiner imaginären Reisen durch den Wilden Westen weltweit zum Idol der lesenden Jugend wurde. Welch ein Massenphänomen der Phantasie und Pseudologie! Die akademische Leserschaft interessierte sich zwar mehr für Romanfiguren seriöser Schriftsteller wie
Dr. Bovary von Gustave Flaubert,
Dr. Gion von Hans Carossa,
Dr. Rönne von Gottfried Benn und
Dr. Schiwago von Boris Pasternak. Wie wurde aber der normale Klinik- und Hausarzt von den Laien eingeschätzt? Ich fand keinen Unterschied zu den Romanhelden der schönen Literatur. Generell galt der Arzt in allen Bildungsschichten nicht als real existierendes, menschliches Wesen. Woran mochte dies liegen? An Hollywood? An den unzähligen TV-Serien? An den Arztromanen? Oder am Ärztestand selbst? Eine erfahrene Kollegin hatte festgestellt, dass sich die renommierten Vorbilder nicht immer vollkommen identisch mit der in der klinischen Wirklichkeit vorherrschenden Schablone deckten. Die belletristische Hauptfigur, dieser unsterbliche Dr. Norden, war viele Jahrzehnte lang in den Fortsetzungsromanen von Patricia Vanderberg tätig und damit auch in der unmittelbaren Anschauung der Patienten pausenlos präsent gewesen. Dieser Arzt agierte und ackerte, aber er alterte nicht! Der Protagonist, der seine Schöpferin inzwischen überlebt hatte, war nicht mehr den Sterblichen zuzuordnen. Dies galt allerdings auch noch für einige seiner Doppelgänger in Klinik und Praxis.

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