Sonntag, 30. März 2008

ÜBER DIE TRÄGHEIT

Die natürliche Stellung des Trägen ist das Liegen. In seiner ganzen Länge berührt der Körper die weiche Unterlage des Bettes oder der Chaiselongue. Er streckt sich, die Spannung in den Gliedern löst sich. Es ist, als entferne sich der Liegende von einer Umgebung. Er verschwindet in sich selbst, verfällt allmählich ins Sinnieren, Dösen, Träumen.


"Die Trägheit ist ein Laster der Einbildungskraft", sagt Wolfgang Sofsky. "Sie ergeht sich im Wünschen und Wähnen. Vorstellungen kennen keine Grenzen und sind durch keine Wirklichkeit eingehegt. Das freie Spiel der Imagination führt letztlich zu säumiger Unentschlossenheit." Tage, Wochen, Monate denkt sich der Faule aus, wie er sein Leben einrichten könne und wie gut es ihm dann erginge, wenn er dies oder jenes tun würde. Gefangen in der Traumwelt unendlicher Möglichkeiten ist er zu faul zum Leben. Er ist zugeschneit vom Gewicht seines Daseins, ist eingepfercht im Sarg seiner Existenz. "Damit Menschen sich in Bewegung setzen und mit dem Handeln beginnen, müssen sie das Reich der Fantasie verlassen und ihr Wünschen in ein Wollen überführen", so Sofsky.



"Nicht zu handeln ist oft schlimmer als böses Handeln"

"Die Wohltat des Handelns liegt darin, dass die Möglichkeiten, für die man sich nicht entschieden hat, vergessen werden. Sie existieren gar nicht mehr, weil die Tat unterdessen die Lage verändert hat. Nur in Gedanken zu handeln, lässt alles, wie es ist. Die Tat klärt die Situation, beseitigt Alternativen und vertreibt die Langeweile. Nicht zu handeln ist oft schlimmer als böses Handeln. Was nicht wirkt, ist so gut wie tot," sagt der Soziologe. Der demonstrative Müßiggang suggeriert Freiheit, Trotz, Unabhängigkeit. Er reizt alle, die sich unter Terminzwängen oder Leistungsdruck bewegen müssen und konfrontiert alle Arbeitsamen mit der Frage, ob Lebensglück vom Tun oder vom Nichtstun herrührt. Vor Zeiten galt die Trägheit als Todsünde. Gleichgültig gegenüber dem Guten verschloss sich der Gottlose in sich selbst. Er wies die Gnade zurück. Glaube, Liebe und Hoffnung waren ihm keine Mühe wert. Von allen guten Werken zog ihn die Trägheit weg. Sie war eine gezielte Abkehr von Gott. Dafür musste der Übeltäter büßen - bis in alle Ewigkeit.




Heutzutage gilt der Vorwurf der Faulheit nicht mehr den Ungläubigen, sondern den Außenseitern der Arbeitsgesellschaft, den Eckenstehern, Trunkenbolden, Schulschwänzern, Zeitverschwendern. So aktionistisch sich die moderne Gesellschaft geriert, sie produziert selbst die Trägheit, die ihr Fundament unterhöhlt. Auf lange Sicht geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus. Immer mehr Menschen werden überflüssig und sind zum Nichtstun verurteilt. Als Ersatz erfindet man neue, oft miserabel bezahlte Dienste, welche die Nutznießer davon abhalten, ihre Lebensaufgaben selbst zu erledigen. In der trägen Gruppe ist die Lethargie eine kollektive Lebensform. Wer sich an der Norm des Nichtstuns vergeht und etwas unternimmt, bekommt die Verachtung der Gruppe handgreiflich zu spüren.



Die Bürokratie ist das Zentrum der Trägheit

Das Laster der Passivität entspringt nicht zuletzt der ungleichen Verteilung des Handelns. Die Wissensgesellschaft übergibt jedes Problem einem Experten: die Planung der Karriere, der Finanzen, der Ehe und Erziehung. Wer die Beratung in Anspruch nimmt, lässt andere für sich denken und entscheiden. Das institutionelle Zentrum der Trägheit jedoch bilden die Bürokratien. Sie sind nicht auf Bewegung, sondern auf Dauer angelegt. Einmal gegründet, ist ihr erster Zweck der Bestandserhalt. Organisationen sind dazu da, weiter zu existieren. Sie aufzulösen, kommt oft teurer als die Fortführung des Betriebs.




"Unaufhaltsam ist der Sog der Trägheit schließlich in den öffentlichen Angelegenheiten", meint Wolfgang Sofsky. "Die moderne Verbands- und Eliteherrschaft beruht auf dem Prinzip der Stellvertretung. Der Untertan wird repräsentiert, ob er will oder nicht. Er gibt seine Stimme ab - und schweigt. Die Vertreter sprechen für ihn, handeln für ihn, entscheiden an seiner Stelle. Wähler und Mitglieder harren aus und lassen ihren Repräsentanten freie Hand. Ihr Schweigen zählt als Zustimmung, ihre Trägheit als Loyalität. Solch stilles Wohlverhalten wird mit Wohlfahrt und öffentlicher Fürsorge entgolten."




Solange niemand aufbegehrt, bleibt das demokratische Regime stabil. Alle Aufrufe zu sozialer Bewegung überspielen nur die Tatsache, dass die Aktivitätsrechte längst verteilt sind. Im Revier der Vertreter herrscht emsige Geschäftigkeit, ein Termin folgt dem anderen, eine Beratungsrunde der nächsten. In der Gesellschaft der Delegierenden beschränkt sich die Tätigkeit auf Beobachtung und seltenen Protest. Die allermeisten verharren in Resignation oder Apathie, nicht wenige wenden sich verdrossen ab und lassen die öffentlichen Angelegenheiten hinter sich. Die Kosten sind unübersehbar. Heutige Demokratien finden meist ohne das Volk statt.

Quelle: 3sat/kulturzeit

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